Herzklopfen
Die beiden merken gar nicht, dass Klaus die Zimmertür geöffnet hat.
Also hier ist Nicki! Hinter dem langen grünen Rücken und den langen grünen Armen ist sie versteckt!
»Spinnenarme hat der Freund unserer Tochter!« behauptet der Papa immer. Und: »Seit drei Monaten trägt der ein und denselben grünen Pullover! Den zieht er wahrscheinlich erst aus, wenn er von selbst herunterfällt.«
»Lass doch die Nicki«, meint die Mama dann beschwichtigend. »Das verstehst du nicht. Nicki ist verliebt. Dir braucht der Bruno ja nicht zu gefallen.«
»Gefallen!?! Dass ich nicht lache. Pickel auf der Nase krieg ich, wenn ich den seh. Lang wie der Eiffelturm und dünn wie Spaghetti! Und so was gefällt meiner Tochter? Ein Bruuuno!!«
Ob dem Papa der Name Violetta besser gefallen würde? — überlegt Klaus an der Tür zum Wohnzimmer. Er traut sich nicht hinein, um sein Buch über Flugzeuge aus dem Regal zu holen. Nicht solange die beiden ineinander verwickelt sind. Spinnengrün und orange getupft. Das Orangegetupfte gehört zu Nickis T-Shirt.
Warum muss Klaus gerade jetzt an Violetta denken? Und warum bekommt er auch noch Herzklopfen? Das da, vor ihm auf dem Sofa, hat doch gar nichts mit ihm und mit Violetta zu tun. Oder doch? Also geküsst hat Klaus die Violetta noch nicht. Doch. Einmal. Beim Pfanderverlose-Spiel. Der Klaus musste dreimal jemand auf die Wange küssen. Klar, dass er sich nicht den Peter oder den Martin oder gar die fette Helga ausgesucht hat. Die drei winzigen Küsse hat Violetta bekommen. Und nachher waren Klaus und Violetta tomatenrot im Gesicht.
Alle haben gelacht.
Der Klaus ist in die Violetta verliebt, haben sie gerufen.
Sollen die nur lachen!
Verliebt sein ist gar nicht lustig. Es ist schön. Aber lustig ist es nicht, denkt Klaus. Weil die Violetta so leicht beleidigt ist. Und wenn sie dann ganz fest an ihm vorbei schaut, und zwar in jeder Klassenstunde und auch in der Pause…, dann tut das sogar weh! Da ist dann tief drinnen im Klaus so ein hingetupfter eisiger Stich, immer wenn er die Violetta ansieht und sie gleich wegschaut. Aber jetzt sind sie schon eine ganze Weile gut miteinander. Und Klaus versucht, keinen Fehler zu machen, der Violetta ärgern könnte.
Jetzt möchte Klaus endlich sein Buch. Nicki und Bruno haben ihn noch immer nicht bemerkt. Sie halten einander eng umschlungen und wiegen sich leicht hin und her, als würden sie versuchen, sich gegenseitig einzuschlafen.
Die Augen haben sie schon zu.
Sie schweigen.
Vielleicht, denkt Klaus, darf man nichts reden, wenn man richtig verliebt ist. Dieses Nichtreden heißt dann: Ich hab dich lieb.
Jetzt schlägt Nicki die Augen auf. Aber sie sieht nur ihren Bruno. Den Klaus an der Tür sieht sie nicht.
Seine Schwester und ihr Freund blicken sich stumm in die Augen. Sie sagen noch immer nichts.
Hmm, überlegt Klaus. Das machen ich und Violetta auch.
Das ist eigentlich unser Spiel. Wir schauen uns ganz lange in die Augen und versuchen auszumachen, welche Augenfarbe der andere hat. Weil die nämlich täglich ein bisschen wechselt. Je nachdem, ob die Sonne scheint oder ob es regnet, ob es hell oder dunkel ist. Ob es Morgen, Mittag oder Nachmittag ist.
Violetta behauptet, dass Klaus braune Augen hat. Kaffeebraune. Aber Klaus sagt, dass er schwarze Augen hat. Wie Kaffee ohne Milch.
»Und deine Augen sind blau«, sagt dann Klaus. »Wie mein Kugelschreiber«
»Nein! Das ist nicht schön!« wehrt Violetta ab. Sie macht einen Schmollmund und funkelt Klaus an.
»Sag was Schöneres! Sofort!«
»Blau wie der Bodensee.« In dem hat Klaus schon einmal gebadet.
Mit dem See ist Violetta einverstanden. Auch wenn sie den Bodensee nicht kennt. Aber das Blau eines Sees ist schön.
Das dauert aber lange mit den beiden, seufzt Klaus und steigt von einem Bein auf das andere.
So geht das also, wenn man verliebt ist…
Man hält sich fest. Man wiegt sich hin und her. Man macht ganz lange die Augen zu. Und dann macht man ganz lange die Augen auf, darf aber nirgendwo anders hinschauen als in sein Gegenüber. Brunos linke Hand fährt sanft über Nickis rechte Hand, streichelt den Arm hoch und langsam wieder zurück.
Auch sehr lange.
Das würde Violetta blöd finden.
Und Klaus ehrlich gesagt auch.
Lange kann er nicht mehr so an der Türschwelle stehen.
Klaus mag nicht beim Verliebtsein zusehen.
Er schämt sich auch ein wenig, aber er weiß nicht genau wofür.
Er ist ein bisschen aufgeregt und weiß nicht recht warum.
Er dreht den beiden den Rücken zu, stoßt dabei an die Tür. Rumms!!
»Sag mal, Kleiner, spionierst du uns vielleicht nach!?!« Das war Brunos kratzige Stimme.
»Wie lange stehst du denn schon da?« fragt Nicki betroffen.
Klaus zuckt mit den Schultern. Soll er sagen: »Ewig«?
»Kann ich endlich mein Buch holen?«
»Ich dachte, dein Bruder ist heute nicht da!« Bruno steht auf. »Ich würd‘ an deiner Stelle das nächste Mal nachsehen, ob er nicht vielleicht in der Schublade steckt, wenn du wieder behauptest, er sei nicht daheim!« Brunos Stimme klingt ziemlich unwirsch.
Auch Nicki steht auf, hält den Freund am Arm fest. Aber Bruno macht sich los. »Hier ist’s mir zu ungemütlich!« sagt er. »Tschau!« Dann geht er. Dreht sich nicht einmal mehr nach Nicki um.
Schaut ihr nicht mehr in die Augen.
Nicht lang und auch nicht kurz.
Gar nicht.
Da ist es mit Violetta schöner.
Sie winken einander immer zu wenn sie nach der Schule heim gehen und sich an der
Straßenbahnstation trennen. Jedenfalls an den Tagen an denen Violetta nicht versucht, ganz fest am Klaus vorbeizuschauen.
Dann lächelt Violetta. Sie lächelt ganz lieb, und Klaus kann ihre Augen sehen auch wenn es schon ziemlich dunkel ist. Sie leuchten blau wie der Bodensee. Sie leuchten auch noch, wenn Klaus auf der anderen Straßenseite ist, und er kann das Leuchten sogar noch spüren, wenn er schon längst um die
Ecke gebogen ist.
Evelyne Stein-Fischer: 13 Geschichten vom Liebhaben. München: DTV, 1989