Ein seltsamer Gast

Herr und Frau Katzelmeier lebten zufrieden in einem Häuschen im Grünen. Ihr Garten war hübsch gepflegt.

Sie liebten die Natur und die Poesie. Jeden Abend lasen sie einander Gedichte vor. Ihr Lieblingsdichter war eingewisser Walter Ross.

Seine Gedichte hattenso etwas Zartes und Feines an sich. Wenn man sie las, konnte es vorkommen, dass einem die

Tränen in die Augen stiegen, so schön waren sie.

»Ach«, sagte Frau Katzelmeier eines Tages,

»ich gäbe viel darum, Walter Ross einmal persönlich kennenzulernen.

Das muss ein Erlebnis besonderer Art sein, so einem wunderbaren Dichter die Pfote zu schütteln!«

Da hatte Herr Katzelmeier einen kühnen Einfall. »Ich werde ihm einfach schreiben!« sagte er.

»Mehr als nicht antworten kann er ja nicht. Ich werde ihn zu uns einladen. Vielleicht haben wir Glück, und er kommt.«

Herr Katzelmeier schrieb einen Brief an den Verlag.

Er bekam umgehend die Adresse von Walter Ross, und dann schrieb er einen langen Brief an den Dichter und lud ihn ein.

Es kam keine Antwort. Aber eine Woche darauf kam der große Dichter höchstpersönlich!

Herr und Frau Katzelmeier erlebten die Überraschung ihres Lebens.

So hatten sie sich Walter Ross nicht vorgestellt! Er war das genaue Gegenteil von seinen zarten Gedichten.

Walter Ross war ein tonnenschweres Walross!

Und was der für Manieren hatte! Er kroch grunzend durch das Wohnzimmer, warf dabei

die Möbel um und verlangte energisch, zum Swimmingpool geführt zu werden.

Doch Katzelmeiers besaßen keinen Swimmingpool. Zur Not stellten sie ihre Badewanne in den Garten.

Walter Ross ließ sich so in die Wanne plumpsen, dass diese sich verformte.

Dann verlangte er einen großen Thunfisch zum Essen und war bitterböse, als er nur eine Dose Sardinen bekam.

Und in der Nacht machte er das Gästebett kaputt, weil er so schwer war.

Herr und Frau Katzelmeier waren heilfroh, als der seltsame Gast am nächsten Morgen abreiste.

So bald würden sie keinen Dichter mehr einladen!

»Ein schrecklicher Geselle!« sagte Herr Katzelmeier kopfschüttelnd.

»Ja, aber seine Gedichte sind herrlich«, sagte Frau Katzelmeier.

Erwin Moser: Ein seltsamer Gast.

Weinheim: Belz Verlag 1988